Schreiben ist bei vielen Kindern negativ besetzt. Schreiben für die Schule sowieso. Dass Schreiben auch eine Bereicherung sein könnte, ist kaum zu vermitteln. "Non scholae sed vitae discimus" (Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir) taugt nur noch in Stein gehauen über dem Schuleingang, ein frommer Spruch angesichts der Schulwirklichkeit. Viele Schüler schreiben außer den Hausaufgaben nicht: keine Einkaufszettel, keinen Brief an die Oma, keine Einladung zum Geburtstagsfest. Doch! Sie schreiben. Sie schreiben SMS.

Also verfallen wir nicht auch noch dem grassierenden Kulturpessimismus.
Und Eltern und Lehrer könnten immerhin über SMS den Einstieg finden, Kinder auch für andere Formen von Schreiben zu interessieren. Zum Beispiel könnte die Tochter sich doch vielleicht breit schlagen lassen, für den untalentierten SMS-Vater eine Abkürzungsliste zu erstellen: "ihdgdl" = "ich hab dich ganz doll lieb" - das wäre doch auch schon mal ein Schriftstück!

Es geht mir hier um wirklich niedrigschwellige Angebote für schreib- und leseunwillige Schüler mit einem hohen Maß an Schulmüdigkeit, die aber sicher auch das Lernen von vielen Kindern ohne Probleme beflügeln können. Ich habe als Geschichtenerzähler, als Deutschlehrer mit Förderunterricht für italienische Kinder und auch in meiner Familie die Erfahrung gemacht, dass Kinder schon gerne etwas mitteilen wollen, bloß nicht in Schriftform und schon gar nicht auf Papier und noch viel weniger in einem Schulheft.
Sich mitteilen, etwas berichten, seine Gefühle und Erlebnisse ausdrücken gehört zum Menschsein dazu. Ich habe zwar auch bei meiner theaterpädagogischen Arbeit im sozialen Brennpunkt ein Kind getroffen, das stumm war und dachte, sein Name sei "Halts Maul", aber das ist glücklicherweise eine extreme Ausnahme.

Bevor man überlegen kann, in welchem Medium das Kind vielleicht Lust haben könnte, sich mitzuteilen - um dann in pädagogischem Übereifer den dritten Schritt vor dem ersten zu tun, indem man sagt "Ja, dann schreib's doch am besten gleich auf!" - bevor man also weiter denkt, muss zunächst überlegt werden: Wo ist denn der oder die, dem das Kind was mitteilen will? Wer ist das denn? Ist sie bereit, die Mitteilung entgegenzunehmen? Ist sie interessiert? Hat sie Zeit und Kraft? Kann sie verstehen, darauf eingehen, nachfragen? Will sie sich dem Kind zuwenden?
Und wenn Ihnen jetzt ein bestimmtes Kind einfällt, das eine Botschaft loswerden will, Sie aber all diese Fragen mit NEIN oder UNKLAR beantworten müssen, dann ist klar, warum manche Kinder stumm bleiben.

Die einfachste Form der Mitteilung ist nach Mimik und Gestik das gesprochene Wort, das Erzählen. Erzählen ist die Grundlage für alle anderen Formen von Mitteilungen, in welchem Medium auch immer.
Ich möchte gerne am Beispiel Erzählen klar machen, was nötig ist, damit die Mitteilung eines Schülers mit Lust abgesandt wird und ankommt und Lust auf mehr macht:
Wenn jemand erzählen soll, muss jemand zuhören. Das sollte in der Regel ein Mensch sein, kein Dackel, kein Kassettenrekorder. Der Grazer Erzähler Folke Tegetthoff sagt "Es gibt keine größere Sehnsucht des Menschen, als jemanden zu finden, der einem zuhört". Zuhören ist Bedingung für Erzählen. Wo keiner zuhört, kann auch keiner erzählen. Die Erzählerin müsste ihren Vortrag abbrechen. Manche Senioren oder Politiker monologisieren gerne, keiner hört zu, aber erzählt wird trotzdem.

Bei meiner Reise zu den griots, den Geschichte-Erzählern in Westafrika, habe ich erlebt, wie groß der Respekt der Zuhörer für den griot ist, wie viel Kraft der griot von den Zuhörern erhält, wie sehr er von ihnen getragen wird. Der Erzähler muss sich Respekt verschaffen, muss für die Bedingungen sorgen, unter denen er erzählen kann. Damit ist das Kind meist überfordert und schreit deshalb "Verdammt, hört mir denn keiner zu?". Sie selbst werden erlebt haben, wie schwer es auf einer Familienfeier sein kann, trotz des wortgewaltigen Onkels auch mal eine kleine Anekdote loszuwerden. Wenn das nicht gelingt, kommt es auf einer solchen Feier zu mehreren Parallelgesprächen. Allgemeines Stimmengewirr. Jeder fühlt sich unbehaglich.
Sie können dem Kind helfen, Zuhörer zu finden und bei der Stange zu halten. Sie kennen das Erwachsenen-Geschrei "Ruhe jetzt! Jetzt hört ihm doch mal alle zu!". Das nützt wenig, wird als betulich und peinlich empfunden, das erzählende Kind bekommt den Eindruck ‚ich kann's ja wohl nicht, das ist für die andern langweilig'. Hören Sie stattdessen zunächst einmal selbst zu. Schauen Sie den Erzähler an, signalisieren Sie Aufmerksamkeit. Stellen Sie möglicherweise irgendeine Form von Körperkontakt her, zumindest körperliche Nähe: stärken Sie ihm den Rücken.

Einige Techniken habe bei den griots gelernt: Gewöhnen Sie die Erzählerin daran, dass Sie sie unterbrechen mit positiven Bestärkungen: "Das ist ja toll! - Das ist ja unglaublich! - Genau, so musste das ja kommen!" Wenn die Kinder das als Unterstützung verstehen und vielleicht sogar selbst verwenden, dann können Sie eine noch aktivere Zuhörer-Rolle einnehmen und Fragen stellen. "Was passierte dann?" ist die einfachste Frage, die vor allem dann hilft, wenn der Erzähler nicht weiter weiß. Damit unterbricht man auch nicht den Redefluss. "Wie ging es ihm dabei?", "Welche Meinung hatte er dazu?" bieten sich als Fragen ebenfalls an. Eine solche Fragetechnik hat Sokrates als Hebammentechnik bezeichnet: Man hilft dem Erzählenden das hervorzubringen, was sowieso aus ihm raus will. Der Befragte ist der Wissende, der Fragende der Unwissende. Fragen nach der Ursache, nach dem Grund können eher stören. Und Fragen nach Alternativen und dazu rhetorische wie "Hätte er nicht auch stattdessen besser ein Messer nehmen können?" sind völlig fehl am Platze, nehmen dem Erzähler das Heft aus der Hand - der Zuhörer wird zum Erzähler: alle wenden sich ihm zu: "Wieso das Messer?" und schon erzählt der Zuhörer - das wäre keine tolle Hilfe.
Sie können dem Erzähler einen Sprechstock (wie bei den Indianern üblich) geben: jetzt weiß jeder, wer erzählt. Sie können ihm einen Ehrenplatz anbieten: Sie legen über einen Stuhl eine schöne Decke. Oder der Erzähler darf sich ausnahmsweise auf einen Tisch setzen, auf ein schönes Kissen. Dann sitzt er auch höher. Irgendwann sollten Sie erreichen, dass die Erzählerin den Mut hat, zu stehen. Sie kann dann viel besser gestikulieren, kann freier Luft holen, lauter sprechen.
Schließlich sollten Sie den anderen Zuhörern, den anderen Kindern, Aufgaben zuweisen, damit ihre Aufmerksamkeit gefordert wird. Setzen Sie auf Neugier: Jeder soll leise zählen, wie oft Waffen erwähnt werden, und sich die Zahl notieren. Wenn von Geräuschen erzählt wird ("der Sturm heult"), dürfen alle dieses Geräusch machen, bis der Erzählende den Sprechstock hebt.
Applaudieren Sie nach dem Erzählen oder Sie führen die "Rakete" ein oder ein anderes Ritual. Und dann sagen Sie dem Erzähler, was Sie von seiner Erzählung für sich mitnehmen - das ist also keine Inhaltszusammenfassung, eher so eine "Moral von der Geschicht'", aber für Sie ganz persönlich. Oder Sie wiederholen einfach den für Sie wichtigsten Satz aus der Erzählung. Vielleicht macht es Ihnen ein Kind irgendwann nach - Kinder lernen von Vorbildern.

Nur wer erfahren hat, dass ihm jemand zuhört, ist auch bereit, selbst einem anderen zuzuhören. Nur wer sich nicht immer zu kurz gekommen fühlt, wer nicht über mangelnde Zuwendung klagen muss, kann sich auch anderen uneigennützig zuwenden.
Zuhören und Erzählen ist Geben und Nehmen, es bedingt sich. Der redegewandte Onkel von der Familienfeier, der professionelle Erzähler auf der Bühne, die Märchenerzählerin in der Bücherei ist vielleicht gar nicht an ihren Zuhörern interessiert. Irgendwann wird so jemand einen Denkzettel für seine Arroganz bekommen. Zuhörer erwarten einen Austausch. Ein-Weg-Kommunikation können sie sich auch bequem am Fernseher holen.

Ich will es extrem formulieren: ein guter Erzähler muss ein guter Zuhörer sein. Nur wer zuhören kann, kann auch erzählen. Auch wenn die von mir skizzierten Aktivitäten der Zuhörer in großen Auditorien reduziert sein müssen, gibt es weiterhin bei einem guten Erzähler eine Interaktion mit dem Publikum: Er hört, er fühlt, er sieht, wie es seinem Publikum geht, ob er verstanden wird, ob er Pausen machen muss, ob er aufs Tempo drücken muss. Er reagiert auf Husten, Handy-Piepsen und Sirenengeheul. Das ist eben ein Live-Erlebnis. Wer Sir Peter Ustinov live erlebt hat, kennt den Unterschied zur Wirkung einer Fernsehsendung mit ihm.
Dem Kind sollte also bestätigt werden, dass es als Live-Erzähler ein einmaliges, lebendiges Erlebnis geschaffen hat. Wenn ein Erzähler für sein Erzählen damit wirbt, dass so auch wieder das Zuhören gelernt wird, so ist ihm zwar der Applaus der Kulturpessimisten sicher, aber er leistet einem fundamentalen Irrtum Vorschub: Zuhören an sich hat keinen Wert. Nur Zuhören macht mundtot. Zuhören lernen macht nur Sinn, wenn man Gelegenheit erhält zu erzählen. Bis ihre Kinder oder Schülerinnen gute Zuhörer und Erzählerinnen geworden sind, wird einige Zeit vergehen, viele Zwischenschritte sind nötig, für die hier der Platz fehlt.

Manche Pädagogen wenden ein, dass die von den Kindern vorgetragenen Geschichten langweilig sind und deshalb unter den Zuhörern zu Unruhe führen, dass vor allem Jungen immer nur von ihren Action-Film-Erlebnissen erzählen. Richtig. Lassen Sie die weniger geübten Kinder kurze Erlebnisse erzählen: Einleitung, Höhepunkt, Pointe und Ende. Bei einem medienpädagogischen Projekt habe ich viele Jungen erlebt, die durchaus 40 Minuten von ihren Horrorfilmeerlebnissen berichteten. Das war für mich schlecht auszuhalten. Mir hat Gianni Rodaris "Grammatik der Phantasie", Reclam Leipzig, geholfen, auch mit solchen Kindern solidarisch zu sein. Richten Sie für solche Viel-Gucker einen Film-Club ein, wo mehr Zeit für solche Berichte sein kann als im normalen Betrieb. In Berlin gibt es einen Treff, wo Film-Enthusiasten ihre Film-Erlebnisse erzählen können - das soll sehr unterhaltsam sein.

Schreiben ist eine Kulturtechnik (Filmen eine andere), die auf Erzählen beruht. Prof. Otto Kruse hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Die Kunst des Erzählens". Es handelt - anders als der Titel das vermuten lässt - nur vom Schreiben von Erzählungen und geht nicht ein auf mündliches Erzählen. Das beruht auf einem in der Literaturwissenschaft weitverbreiteten Standpunkt, der letzten Endes nur dem schriftlich Fixierten einen Wert zubilligt. Das sehen Ethnologen anders - sie sprechen von ‚oral literature' und sie sagen über die griots in Afrika "Jeder griot, der stirbt, ist wie eine Bibliothek, die brennt".

Auch die Gebrüder Grimm haben der mündlichen Überlieferung einen hohen Wert zugebilligt, sonst hätte ihre Märchensammlung nicht entstehen können. Gleichzeitig aber haben sie damit das Leben, das in der Veränderung durch die Überlieferung steckt, in die Konserve Buch gepresst, fixiert und getötet.
Die Einstellung "Nur das, was auf dem Papier steht, zählt" ist Buchhalter-Denken. Die mündliche Erzählung des Schülers hat für mich mehr Wert.
Auch der Brief, der einen Adressaten wirklich anspricht, das Plakat, das den Passanten anregend informiert, ist wichtiger als der schön formulierte Tagebucheintrag. Unter den selbst verfassten Gedichten ist mir das vorgetragene lieber als das schriftlich abgegebene - übrigens zeigt sich der rhythmische Wert eines Gedichts erst im Vortrag! Und noch etwas: Noch scheint auch unser Berufsleben dominiert zu sein von der Wertigkeit von Bildern und Texten - ich spüre aber, dass der Wert der persönlichen Live-Präsentation zunimmt.

Bei aller Begeisterung für das Erzählen weiß ich natürlich wie wichtig das Schreiben-Können ist. Deshalb einige Ideen, wie Sie als wirklich dritten Schritt nach dem Zuhören aus dem Erzählen zum Schreiben kommen - wie gesagt, Ideen für Schüler mit massiven Problemen, die sich für andere Schüler abwandeln lassen.
Lassen Sie sich was von einem Schüler erzählen, nehmen Sie die Erzählung mit einem Kassettenrekorder auf, schreiben Sie die Aufnahme für den Schüler originalgetreu ab, drucken Sie das Dokument aufwändig aus und überreichen Sie ihm das Büchelchen mit einer Schleife und mit Dank an den Schriftsteller. Können Sie sich vorstellen, wie sich dieser Schüler, der sonst nie schreibt, nicht schreiben kann, dann fühlt?
Er wird seinen Text herumzeigen, er wird ihn lesen, er wird merken, dass es da noch was zu verbessern gibt. Also setzen Sie ihn an den Computer, lassen Sie ihn am Ausdruck rumfeilen und wenn er nicht weiter weiß, kann er ja fragen "wie soll ich das bloß ausdrücken?" und Sie sagen dann natürlich "Wie würdest du es denn jemandem sagen?". Schalten Sie die automatische Rechtschreibkorrektur ein, dann wird der Schüler wenigstens nicht mit den zahllosen Arten der deutschen Vokaldehnung malträtiert.

Bevor meine Tochter in die Schule kam, waren wir 3 Monate in Irland und wir haben ein (zweites) "Irisches Tagebuch" geschrieben. Zuerst kam eine Tüte Chips auf den Tisch und dann habe ich gefragt "Was ist heute passiert? Was soll ich aufschreiben?". Dann hat sie mir in mein Notebook diktiert, ich also in der Rolle von Sekretär und Hebamme(r). Oft wusste sie mit ihren 5 Jahren nicht, wie sie etwas ausdrücken sollte oder die Worte fehlten ihr. Dann habe ich ihr möglichst behutsam geholfen, möglichst ohne ihr Vorschläge zu machen. Und wenn die Chips aufgegessen waren, war genug aufgeschrieben worden.


gekürzt veröffentlicht in: wortspiegel 03/04 2004


alle Rechte beim Autoren

Stefan Kuntz, Bergisch-Gladbach 2004

Kontakt: stefan.kuntz(rollmops)geschichten-erzaehlen.de

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Zuhören - Erzählen - Schreiben


von Stefan Kuntz