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Mit Worten Welten erschließen

Erzähler im Kampf gegen Mythen


von Claus Claussen


Die folgende Zuschrift erreichte uns als Reaktion auf ein Rundschreiben an die ErzählerInnen auf der Liste. Darin sind einige Mißstände derart treffend dargestellt, dass wir das Schreiben gerne veröffentlichen.


Bei den Begriffen "Geschichten", "Erzählen", "Rezitieren" u.v.a. ist nach meiner Einschätzung viel beharrliche Pressearbeit sowie Öffentlichkeitsarbeit mit vielen Pressepapieren notwendig, denn es geht um einen jahrhundertealten gewichtigen Gegenspieler, nämlich das "kollektive Gedächtnis", das den Übergang von der Oralität zur Literalität gespeichert und traditionell gewertet hat: Literalität schlägt Oralität!


Da stecken erstarrte Mythen drin, die wieder "aufgeweicht" und in "Bewegung" gebracht werden müssen.
Ich will noch ein paar Beispiele nennen:


  1. 1.In einer Grundschule (vierzügig, d.h. mit 16 Klassen), in der mich alle Kinder als Erzähler ("ohne Buch") genau kennen, spricht nach wie vor die Hälfte des Kollegiums beharrlich von "Lesungen".


  1. 2.In unserer Regionalpresse wird der Erzähler Claussen stets ohne Buch abgebildet. In jedem der dazu gehörigen Interviews fragen mich die zumeist jungen Reporterinnen beharrlich nach den Werken, aus denen ich lese, obwohl sie selbst gesehen und gehört haben, dass ich erzähle.


  1. 3.Über das Oktober-Mobil-Magazin der DB habe ich mich auch aufgeregt. Dort ging es bekanntlich um "Märchenfestivals". Bei einer telefonischen Rückfrage in der Redaktion wurde mir erklärt: "Märchenfestivals" hätten einen höheren "Quotenbringerwert" als z.B. "Erzählfestivals" oder gar als "Geschichtenerzählertreffs". "Märchen" gelten als weitaus wertvoller als "Geschichten"...unter "Märchen" könnten sich die Leute was vorstellen.


  1. 4.Noch schlimmer geht es in meinem eigenen Berufsstande zu, bei den Lehrern.
    Folgende Mythen* machen dort die Runde:


  1. -Geschichten dürften nur Leseunfähigen erzählt werden, sonst minderten sie die Lesemotivation, d.h. den festen Willen, selber lesen zu lernen, d.h. den Kindergartenkindern und jenen in 1 und 2. Klassen
    Unausrottbar, aber falsch!


  1. -Geschichten dürften nur an Schreibunfähige erzählt werden.
    Unausrottbar, aber falsch.


  1. -Geschichtenerzählen sei unmodern, d.h. von vorgestern. Es habe spätestens nach der Grundschulzeit aufzuhören, dann setze die ernsthafte "literarische Bildung" ein.
    Unausrottbar, aber falsch.


  1. -In einem Kindergarten bei uns in der Nähe legt ein Leiter (!) fest, dass den Schulanfängern keine Gute-Nacht-Geschichten und schon gar keine anderen Geschichten mehr erzählt werden sollen - um die Lesemotivation nicht zu beeinträchtigen etc.etc.


  1. -In einem bekannten Projekt, das sich der Zuhörförderung widmet, behauptet ein bekannter Vertreter dieses Projektes gar: Erzählen ist eine aktive Form des Lesens. "Sancta Simplizitas !"


* Derartige "Mythen" entstammen jener von mir so bezeichneten "pädagogischen Mythologie", d.h. einer angedunkelten, nie reflektierten und auf den Wahrheitsgehalt überprüften Überlieferung aus früheren Schulalltagszeiten. Das heißt aber nicht, dass sie irgendetwas an ihrer Wirkmächtigkeit eingebüßt hätten.


Claus Claussen, Hofheim / Taunus im November 2004

Kontakt: info(rollmops)noch-eine-geschichte.de